Ein ehemaliges Heimkind muss für seine pflegebedürftige Mutter keinen Unterhalt zahlen. Dies hat das Familiengericht Offenburg mit Beschluss vom 19.06.2018 in dem Verfahren 4 F 142/17 entschieden und festgestellt, dass ein im Heim aufgewachsenes Kind nicht unterhaltspflichtig ist. Die 55-jährige Antragstellerin wurde vom Sozialamt auf Zahlung von Pflegekosten für ihre Mutter in Anspruch genommen. Dazu war sie nicht bereit. Sie argumentierte, ihre Mutter habe sie nach der Geburt weggegeben, sie sei im Kinderheim aufgewachsen und habe so gut wie keinen Kontakt zu ihr gehabt. Im Mai 2018 schlug das Gericht vor, dass die Tochter 30 % des errechneten Unterhalts im Wege eines Vergleichs zahlen solle. Das lehnte die Antragsstellerin ab. Im späteren Beschluss bestätigte das Gericht die Rechtsauffassung der Tochter und verneinte einen Unterhaltsanspruch der im Pflegeheim lebenden Mutter.
Die Antragsgegnerin machte aus übergegangenem Recht Elternunterhalt gegen die Antragstellerin geltend. Die Eltern der Antragstellerin heirateten 1962 in Offenbach. Allerdings wurde die Ehe schon im Mai 1964 wieder geschieden. Im Juni 1965 heirateten die Eltern erneut. Die Ehe wurde dann im März 1979 erneut geschieden. Der Vater übernahm keine Verantwortung für seine Frau und die Kinder und leistete keinen Beitrag zum Lebensunterhalt. Die Mutter der Antragstellerin war schon bei deren Geburt schwerhörig. Die Antragstellerin wurde als zweites von fünf Kindern ihrer Mutter geboren. Sie kam Mitte Januar 1963 in ein Säuglingsheim. Von dort wechselte sie im Mai 1964 in ein anderes Heim, in dem sie aufwuchs und bis August 1981 lebte.
Die Antragsgegnerin behauptet, dass die Mutter in der Fähigkeit ihre Kinder zu erziehen zumindest eingeschränkt war und die Antragstellerin ihr darüber hinaus verziehen habe. Sie beziffert den monatlichen Elternunterhalt auf 785 Euro. Für den Zeitraum vom August 2016 bis Dezember 2017 bezifferte die Antragsgegnerin einen rückständigen Unterhalt von 13.038,79 Euro. Diesen Betrag machte sie zunächst im Wege eines Widerantrages bei der Antragstellerin geltend. Mit Zustimmung der Antragstellerseite reduzierte die Antragsgegnerin den errechneten Unterhalt um 40 %.
Die Antragstellerin verteidigte sich damit, dass der Anspruch auf Zahlung von Elternunterhalt wegen vollständigen Kontaktabbruchs aus ihrer Sicht vollständig verwirkt sei. Daher bestehe keine Verpflichtung, Unterhalt zu zahlen. Ursprünglich wollte sie mit Ihrem Antrag die Feststellung erreichen, dass sie zur Unterhaltszahlung nicht verpflichtet sei. Nachdem die Antragsgegnerin Leistungsantrag gestellt hatte, nahm die Antragstellerin ihren Antrag konkludent zurück. Das Gericht vernahm mehrere Zeugen. Ebenso zog das Amtsgericht die alten Scheidungsakten bei.
Das Amtsgericht kam zu dem Ergebnis, dass der Unterhaltsanspruch der Höhe nach korrekt ermittelt sei. Allerdings sie der Anspruch nach § 1611 BGB ausgeschlossen, weil eine Inanspruchnahme der Antragstellerin grob unbillig wäre. Der Verwirkungsgrund setzt einen vorsätzlichen und schuldhaften Verstoß der Mutter gegen gewichtige, ihr auferlegte Pflichten voraus. Es muss eine tiefgreifende Beeinträchtigung schutzwürdiger persönlicher Belange der Antragstellerin – auch durch Unterlassen – vorliegen. Ein solcher vorsätzlicher und schuldhafter Verstoß der Mutter liege vor.
Die durchgeführte Beweisaufnahme ergab, dass die Mutter seit Geburt der Antragstellerin weder die tatsächliche Verantwortung und Betreuung für ihre Tochter übernahm noch sich in nennenswertem Umfang um sie kümmerte. Auch nahm die Mutter keinen Anteil an dem Leben ihrer Tochter. Auch erhielt die Antragstellerin keine Unterstützung bei Problemen. Auch wurde von der Mutter keine Liebe und Zuneigung vermittelt.
In Anbetracht dessen, dass das Weggeben der Antragstellerin und der sich daran anschließende auf ein Minimum beschränkte Kontakt – sogar zum Zeitpunkt einer langwierigen, lebensbedrohlichen Erkrankung – die gesamte Kindheit der Antragstellerin betraf, geht das Gericht von einer besonders schwerwiegenden, die gesamte Kindheit andauernden Verfehlung aus. Auch wenn die finanzielle Inanspruchnahme sich nach Reduzierung der Antragsforderung auf monatlich 307 Euro beschränkt – ist daher eine Inanspruchnahme grob unbillig.
Die Besonderheit im vorliegenden Fall lag darin, dass die Kindesmutter durchaus dazu in der Lage gewesen wäre, die Tochter unter Zuhilfenahme Dritter zu betreuen. Dies dürfte für das Gericht ausschlaggebend gewesen sein. Denn die Verwirkung wegen einer schweren Verfehlung setzt grundsätzlich Verschulden voraus. War im Rahmen des Elternunterhalts die Mutter krankheitsbedingt nicht in der Lage, das unterhaltspflichtige Kind zu betreuen, war sie wegen dieser Einschränkung – wie ein barunterhaltspflichtiger Elternteil bei fehlender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit – nicht zum Unterhalt verpflichtet.
Eine Verwirkung des Anspruchs auf Elternunterhalt liegt selbst bei einseitigem Kontaktabbruch des Unterhaltsberechtigten gegenüber seinem volljährigen Sohn nicht vor. Ein vom unterhaltsberechtigten Elternteil ausgehender Kontaktabbruch stellt zwar im Grundsatz eine Verletzung der Pflicht zum Beistand nach § 1618 a BGB dar. Dies begründet aber regelmäßig noch keine schwere Verfehlung. Insbesondere dann nicht, wenn der Elternteil während der Minderjährigkeit des verpflichteten Kindes seiner Unterhaltspflicht entsprochen hat.
Autor:
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Familienrecht
Frank Baranowski
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